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Achtung, Plot-Twist!
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Hi, !

gestern war ich mit 2/3 der Kinder Fahrradfahren. Zum ersten Mal in diesem Jahr. Also: Erst mal die Fahrräder aus dem Keller hochholen, Bremsen checken, Reifen aufpumpen. Dann waren wir bereit zum Losfahren! Aber, oha, da blitzte was in der Sonne: Eine Glasscherbe, direkt vor meinem Fahrradreifen. Ich hebe sie auf. Und, oh, noch eine! Nach ein paar Minuten sah meine Ausbeute so aus:

Ich war mutig: Ich habe alles in meiner Hand gesammelt. Ich dachte, ich sammle ja nur ein oder zwei Glasscherben auf, dann wurden es so viele. Natürlich dürfen auch die obligatorischen Zigarettenkippen nicht fehlen. Über das Thema Müll habe ich diese Woche schon einmal in meinem Newsletter geschrieben, es beschäftigt mich gerade sehr intensiv.
Es gibt da den Begriff "Müllblindheit": Die meisten Menschen sehen den Müll gar nicht mehr, der um sie herum verstreut liegt. Oder sie sehen den Müll, erkennen ihn aber nicht als ihr Problem an, so nach dem Motto: Soll sich doch die Müllabfuhr darum kümmern. Nur: Wird die Müllabfuhr jemals durch den Wald fahren oder die Glasscherben aus den Ritzen des Kopfsteinpflasters picken?

Wenn wir einmal anfangen, den Müll wirklich zu sehen, sind wir wie vom Blitz getroffen: Wir sind ja umgeben davon! Diese Erkenntnis ist hammerhart.

Das ist nicht nur mit Müll so. Das ist mit vielen problematischen Themen so. Wenn du einmal sensiblisierst bist, kannst du die Zeichen nicht mehr übersehen. Und, Achtung Plot-Twist, das gilt auch für die Aggressionen, die von Putin ausgehen.

Viele um mich herum sind in den letzten Tagen aus allen Wolken gefallen. Und ich nur so: Wie bitte??

Meine Familie kommt aus Rumänien, mein Vater stammt aus Sighetu Marmaţiei, einer Grenzstadt. Direkt am anderen Ufer war die Ukraine. Für uns war das immer "die Ukraine", auch wenn das Land jenseits des Flusses damals offiziell UdSSR hieß. Wir hatten das Pech, in einem Satellitenstaat zu leben, aber immerhin waren wir umgeben von der Ukraine, die ein Puffer zwischen uns und Russland war und der fröhlichsten Baracke im sozialischen Lager, Ungarn. Die tägliche Mangelwirtschaft, die Korruption, die fehlende Perspektive - und für was, das Ganze? Ich war damals ein kleines Kind, ich habe das alles gar nicht so mitbekommen. Aber an die leeren Regale in den Läden, an die kann ich mich erinnern. Mein Mann Laszlo kommt ebenfalls aus der Gegend, aus Satu Mare. Seine prägendste Kindheitserinnerung: Seife gab es nicht in den Läden, sie musste zuhause gekocht werden.

Ich rechne meinen Eltern hoch an, dass sie mich und meine Brüder von all dem abgeschirmt haben. Ich kann mich an kein schlechtes Wort über Russland erinnern. Nie wurde ich dazu erzogen, gegen "die Russen" zu sein. Das Thema Russland wurde ausgeklammert. Erst als wir schon in Deutschland waren, habe ich erfahren, dass meine Eltern Russisch in der Schule hatten. Und, sagen wir es so: Es war kein Wahlfach. Meine Eltern können kyrillisch lesen? Wow, ich war baff!

Noch später habe ich erfahren, dass die Familie meiner Mutter in Rumänien, keine 40 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, schwer von der Hungersnot 1946/1947 getroffen wurde. Meine Mutter war damals vier Jahre alt. Ich war überrascht: Dort, wo alles so fruchtbar ist, gab es eine Hungernsot? Und noch später habe ich das erste Mal von "Holodomor" gehört: "Tötung durch Hunger" auf dem Gebiet der Ukraine von 1932 bis 1933. Ich war schockiert: Warum habe ich davon noch nie gehört, warum habe ich das in der Schule nicht gelernt? Vielleicht, weil in den 90ern unsere uralten deutschen Geschichtsbücher nicht aktuell waren: Erst Ende der 80er wurde das Tabu um diese brutale Hungersnot gelüftet und mit dem systematischen Sammeln von Berichten von Zeitzeugen begonnen. Laszlo hingegen hat in Ungarn sehr wohl von Holodomor erfahren. Nach dem Ende des Kommunismus wurden alle Unterrichtsmaterialien neu erstellt, vor allem die Geschichtsbücher. Laszlo hatte damals im Gymnasium eine druckfrische Erstausgabe. So einen großen Unterschied macht die geografische Nähe aus.

Vor sehr genau acht Jahren kam die Annexion der Krim. Seitdem gibt es die Kämpfe im Osten der Ukraine. Aber da ist noch so viel mehr: Die unrühmliche Serie an russischen Giftanschlägen, Nawalny und die Unterdrückung der Oppposition, die Einschüchterung von Journalisten rund um Olympia in Sotschi, der Mord im Kleinen Tiergarten in Berlin 2019, die wahrscheinliche Mitverantwortung in 2021 bei der Entführung des Flugzeugs, in dem der Blogger und Regimekritiker Roman Protasewitsch saß. Alleine in den letzten 8 Jahren gab es viele kleine und große Zeichen, dass sich da etwas zusammenbraut und dass wir es im Kreml nicht mit einem gewöhnlichen Verhandlungsgegner zu tun haben.

Es ist, als ob sich aus vielen Glasscherben ein Bild zusammensetzt. Aber ist es wirklich ein Bild? Oder nicht doch ein scharfkantiger Scherbenhaufen? Spätestens jetzt ist es an der Zeit, dass wir genau hinsehen und die Kehrschaufel holen.
Blog like nobody's reading.

LG
Judith
 
 
Judith Peters
Sympatexter
Judith Peters, Oberstadtstraße, 32, 72401 Haigerloch, Germany
judith@sympatexter.com
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